Teil 1 der Geschichte von Marjory lesen
„Hallo?“, wiederholte der Geist des Jungen, langsam in Panik verfallend. „Ist da jemand?“ Er wandte mir den Rücken zu.
Ich sprach mit weicher Stimme, als würde ich mit einem in die Enge getriebenen Tier oder verängstigten Kind reden. Beides traf zu. „Mendel. Alles ist gut. Ihr seid nicht allein.“
Ich konnte ihm zumindest den Übergang erleichtern, ihn in die Nebel senden, wo … aber wer wusste schon, ob es dort besser war als hier. Vermutlich nicht.
„Wer … wer seid Ihr?“ Der Äther verzerrte seine Worte.
„Das tut nichts mehr zur Sache. Sagt mir nur eins, bevor ich Euch zu den Göttern sende. Was war das für ein Verbrechen, das Ihr gestern mitangesehen habt?“
Die Transparenz des Jungen waberte und sein Gesicht nahm einen ängstlichen Ausdruck an. „Ich … Ich …“
Ich richtete meine Magie auf ihn, leitete sie über ihn wie die Berührung einer Mutter und sah, wie er sich entspannte. „Mir könnt Ihr es sagen.“
Er vergrub sein Gesicht in den Händen. „Sie brachten eine … Frau … in einen Keller. Sie wandten dunkle Magie gegen sie an. Sie schrie, aber lautlos. Ihr Mund war offen, es drang aber kein Laut daraus hervor. Ihre Augen …“
„Ich verstehe. Wer war es?“
Zum ersten Mal sah mich der Geisterjunge direkt an und sagte: „Minister …“
Den Bruchteil einer Sekunde vor der Explosion hörte ich hinter mir elektrisches Knistern. Als die Explosion an meinem linken Ohr vorbeischoss, rollte ich instinktiv zur Seite. Der Zauber war aber nicht für mich gedacht. Er traf den Geisterjungen mitten in die Brust, riss ihn von den Füßen und schleuderte ihn in die Luft.
Als seine Brust implodierte, schrie der Geisterjunge auf und wurde dann durch ein Loch im Weltgefüge in die Nebel gesaugt.
Einen Augenblick später landete ich wieder auf meinen Füßen, doch für den Geisterjungen war es bereits zu spät. Ich wechselte in den Jägermodus. Der andere Nekromant hatte bereits die Flucht ergriffen und dabei eine Energiesignatur hinterlassen, der ich folgen konnte, wenn ich mich beeilte. Also sprintete ich los.
Am Ende der Gasse erreicht hatte, stürmte ich in eine breite Straße, wo ich anhielt und die Umgebung nach meiner Beute absuchte.
Um mich herum zerbarst eine Wolke toter Luft, heftete sich an mich und ließ mich nicht mehr los. Die verweste Luft enthielt Partikel, die an meiner Haut und Kleidung hafteten, sich im Inneren meines Mundes und meiner Nase festsetzten und mir die Tränen in die Augen trieben. Ich wappnete mich dagegen. Man möchte meinen, dass Nekromanten an so etwas gewöhnt sind, doch nicht an diesen Geruch. Der Körper reagiert automatisch. Ich kämpfte gegen den Würgereiz an und suchte meine Umgebung ab.
Da! Eine Figur in einem schwarzen Umhang glitt durch den Schatten auf der anderen Seite der Straße.
Ich rannte hinterher und holte sie ein, als sie um eine weitere Ecke bog. Mittlerweile hatte ich meine Lektion gelernt, also kam ich zum Stillstand, ging in die Hocke und spähte um die Ecke.
Diesmal traf kein übler Zauber mein Gesicht. Kein Ziel erwartete mich, um zu kämpfen. Absolut niemand.
Langsam richtete ich mich auf, und als ich wieder aufrecht stand, näherte sich mir von hinten vorsichtig ein Körper. Arme umfassten mich so sanft, dass meine Abwehrinstinkte nicht darauf reagierten. Dann hatte ich plötzlich ein Messer an der Kehle.
Ich erstarrte. In einer solchen Situation bleibt einem kaum etwas anderes übrig als zuzuhören.
Eine tiefe Stimme flüsterte mir ins Ohr: „Ruhig.“ Von meinem Häscher ging keine nekromantische Kraft aus. Das hier war etwas anderes. „Der Kerl, hinter dem Ihr her seid, heißt Kraig der Düstere. Auftragsmagier. Wahrscheinlich werdet Ihr ihn nie wiedersehen.“
„Wer seid Ihr?“, fragte ich.
„Hört mir genau zu“, sprach die tiefe Stimme. „In dieser Stadt, in dieser Welt, sind Kräfte am Werk, die uns alle ausschalten werden, wenn wir es zulassen. Doch zusammen können Ihr und ich etwas bewirken.“
Mein Körper entspannte sich, meine Sinne nahmen die Umgebung wieder wahr und ich konnte endlich wieder atmen. „Was für ein wunderbarer Beginn unserer Bekanntschaft.“ Selbst mein Sinn für Humor erholte sich wieder.
„Einer, den Ihr nicht vergessen werdet. Ich werde mich wieder melden. Nennt mich E.“
Und schon war ich frei, meine Kehle unversehrt. Ich wirbelte herum, doch da war niemand. E, mein Häscher, hatte mich einfach stehen lassen, ganz allein, in einer mondlosen Nacht, am Rand einer gepflasterten Straße, die nach fauligem Gemüse und Hundekot stank und mir fiel nur eins ein: Ich brauche einen neuen Job.
Am nächsten Morgen gab ich meine Dienstmarke zurück. Und am Tag danach übernahm ich meinen ersten Fall als Marjory Delaqua, Privatdetektivin: Ich heuerte mich selbst an, um das Komplott hinter der Ermordung des Geisterjungen zu lösen. Bisher ist mir das noch nicht gelungen, das wird es aber. Wenn alle Stricke reißen – alle landen früher oder später in den Nebeln. Und wir Nekromanten haben eine gehörige Portion Geduld.